19
Zur gleichen Zeit wurde auch mein Vetter Manfred geboren. Er war das Kind von Fränzel Popp. Fränzel wurde von ihren Schwestern auch Sisska genannt. Wir Kinder riefen sie liebevoll: „Nana“. Sisska hatte ihren Hauptfeldwebel Josef per Ferntrauung an der Ostfront geheiratet. Sie war eine reinrassige Sanguinikerin, die nach Auskunft ihres Vaters mit einem Augen weinen und mit dem anderen Auge zugleich lachen konnte. So hatte sie ihren Josef, ohne ihn genauer zu kennen, aus heiterem Himmel und als spontanen Beitrag zum Großen Krieg mittels einer „Ferntrauung“ einfach blind geheiratet. Tante Fränzel hatte mit ihrer Liebeslotterie großes Glück, weil ihr Mann ein sehr schöner, männlicher Mann mit guten Manieren war und einem gesunden Humor hatte. Er war Oberfeldwebel, trug seine blitzeblanke Uniform stolz wie ein Gardeoffizier. Onkel Josef war am Anfang des Frankreichfeldzuges verwundet worden und überstand auch die siegreichen Rückzüge von der Ostfront. Er bekam im Februar1944 ein paar Tage Heimaturlaub, die er ausschließlich im Bett seiner ihm nahezu unbekannten Frau verbrachte. Nur für die kirchliche Trauung erschien das Paar für ein paar Stunden in der Öffentlichkeit. Bei der Schlacht im Bett des 42-jährigen Ehepaares ist mein Vetter Manfred entstanden, während draußen auf dem Boden des 3. Reiches der Krieg tobte, die Sirenen heulten und die ersten Bomben auf unser Städtchen fielen.
Nana war die Lieblingstante. Sie konnte stundenlang mit uns Kindern spielen, Gedichte erfinden, Bilder malen und auf dem Bett
toben.
Sie tat dies so hingebungsvoll, dass während ihrer kreativen Spiele der süße Hefeteig auf den Boden floss oder das Bügedurch das Bügeltuch und das Bügelbrett brannte. Mehrfach wurden größere
 

Schäden nur vermieden, weil das Personal der Doktor-Weinstube denBrandgeruch bemerkte oder den Qualm aus dem offenen Küchen-
fenster richtig deutete. Ganz vorne auf der Liste von Nanas
„Feuer-Festspielen“
stand angebrannte Magermilch, die sich, Gott sei Dank, frühzeitig durch ihren Gestank bemerkbar machte.

Die Spiele im Schlafzimmer der Tante waren Theater-und Ballett-Aufführungen zugleich. Besonders beliebt waren die expressionis--tischen Ausdruckstänze der Tante, die im Morgenrock und mit offenem Haar dargeboten wurden. Sie vollführte dabei Bewegungen, als ob sie Kirschen von einem Baum pflückte. Nach dieser heftigen Darbietung sangen die Tante mit mir und Marlene schöne Lieder, die wegen ihres Dreivierteltaktes eine herrliche Alternative zu den vielen
Soldatenliedern waren, die mit ihrem Gestampfe im Viervierteltakt
immer etwas Bedrohliches ausstrahlten. Ich liebte besonders die
Lieder „Komm auf die Schaukel, Luise“ und den frechen Text des
Liedes „Die Kirschen in Nachbars Garten“. Tante Fränzel sorgte dafür, dass ich die Doppeldeutigkeit der Texte zumindest erahnen konnte.
Die geliebte Tante hat den Walzertakt inunser Kinderleben gebracht.
Sie hatte darüber hinaus aber auch einen großen unbezahlbaren Nutzwert für uns Kinder, denn
Mutter Maria hatte einen Horror vor Rotznasen, Schmuddelkindern, schmutzigen Schuhen und Löchern
in den langen Strümpfen.
Um dem mütterlichen Zorn zu entgehen, machten wir auf unserem Heimweg gerne einen Umweg über Tante Fränzel. In einem Blitz-Reinigungs- und Stopfverfahren wurden wir für
die mütterliche
Prüfung notdürftig aufpoliert.
Info
Gehen  Sie  mit dem Cursor über die schwarzen Punkte.
Mit den grünen
Pfeilen können
Sie vorwärts oder
rückwärts
blättern
oben rechts sehen
Sie die
rote Seitenzahl
 
 


Diese Info
können Sie mit den
grünen Buttons
aus- oder einschalten