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Hilde Thowe lebte bei ihren Eltern und musste jeden Tag einen ziemlich weiten Weg zu ihrer Arbeit zurücklegen. Als sie das Vertrauen meiner Eltern gewonnen hatte, durfte sie Lieschen und mich manchmal mitnehmen zu ihren Eltern, die in einer Arbeitersiedlung in der Nähe einer Ziegelhütte wohnten. Bei Thowes lernte ich eine ganz andere Form des Lebens kennen. Thowes waren bettelarm, aber sie hatten Kaninchen, Ziegen, Hühner, Kanarienvögel und einen Garten hinter der Hütte, in dem alles wuchs, was ich nur aus Einkaufläden kannte. Die Tiere hatten einen Namen, waren zutraulich und ließen sich geduldig streicheln und an einer Leine zu den Wiesen führen, wo sie Gras fressen konnten. Hilde rupfte bei diesen Weidegängen noch einen Korb „Löwenzahn“, der sowohl von Tieren als auch von Vater und Mutter Thowe als “Bettseícher-Salat“ gerne und oft gegessen wurde. Zu diesem Salat gab es „Gequellte“ mit brauner Mehlschwitze. Saure Milch mit Zucker und Himbeeren aus dem Garten bildeten den Nachtisch. Wir Kinder waren dann satt und zufrieden, und überglücklich, weil wir an einem Holztisch saßen, den keine Tischdecken, silberne Bestecke und keine zierlichen Gläser zierten und unser junges Leben zu einem täglichen Hindernisrennen machten.

Der Tisch stand mit der schmalen Seite an der Wand und dort blickte
mit ernster Miene unser Führer Adolf Hitler auf die Familie herab. Vor
ihm hing ein Fliegenfänger über dem Tisch, an dem fette, schwarze Fliegen klebten oder noch zappelten. Vater Thowe war dem Führer sehr dankbar und deswegen scheuchte er mit einer gewaltigen Hand-bewegung die Fliegen vom Hitlerbild.
Der Führer hatte vor kurzem seine Heimat, das Saarland, wieder ins Reich zurückgeholt, er hatte dafür gesorgt, dass er wieder eine Arbeit als Hauer im Kohlebergwerk gefunden hatte und dass er in seinem Haus fließendes Wasser und elektrisches Licht hatte.
  Dann hatte der Führer die Österreicher, die eigentlich auch nur Deutsche waren, dem Reich wieder angeschlossen, er hatte Danzig heim ins Reich geholt und Böhmen und Mähren wieder deutsch gemacht. Und das alles ohne Krieg und mit nur ganz wenigen Toten, die dann für ihren Tod mit einem üppigen Heldenbegräbnis beerdigt wurden. Alles mit viel Fahnen, Uniformen, berittener Polizei und Reden und Musik und Hitlerjungen mit kleinen und großen Trommeln.
Der Führer vollbrachte unvorstellbare Heldentaten und die ganze Welt schaute dem erfolgreichen Führer der Deutschen atemlos zu. Papa Thome bekam Tränen in die Augen, wenn er im Volksempfänger immer neue Taten des Führers hörte, und, weil er ihn so liebte, nannte er ihn auch immer: „mein Führer“. Bis dahin war das Vertrauen des Papa Thome in den Führer grenzenlos und über jede Kritik erhaben und weil Papa Thowe immer nur nachts arbeitete und deshalb tagsüber schlief, musste seine Frau ihn sofort wecken, wenn im Volksempfänger die Préludes von Franz List erklangen. Als die Polen dann einen Krieg mit dem Führer anfingen, wurde Papa Thowe ein wenig stutzig, weil nun auch die Franzosen und die Engländer uns den Krieg erklärten. „Mit denen werden wir schnell fertig, wenn es nicht noch mehr werden“, meinte der sonst sehr schweigsame Bergmann, der seine Weiber mit kantigen Handbewegungen lenkte und seine Anweisungen mit leisem Knurren oder Grunzen sicher durch ihr ziemlich gleichförmiges Leben steuerte. Hilde und ihre Mutter, die beide nur um das Wohl ihres Ernährers besorgt waren, kannten die seltenen Redeanfälle des alten Schweigers, die oft vom lauten und langen Husten aus einer verstaubten Bergmannslunge unterbrochen wurden, ziemlich auswendig.

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