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Vor so viel unsoldatischer Höflichkeit gab der Herr Offizier irritiert seine Schimpferei auf, zog sein Feuerzeug aus der Manteltasche und gab ihm
Feuer. Dann ruckte der Zug an und als er aus dem Bahnhof rollte, weinte
meine Mutter laut und hemmungslos, was ich bei ihr noch nie erlebt hatte.
Nach dem Gefühlsausbruch meiner Mutter übernahm sie sicher und kühl die volle Kommandogewalt über die Familie.

Bis zu diesem Zeitpunkt war unser Dasein in Metz ziemlich ruhig verlaufen. Nun aber begannen sich aber die Dinge zu beschleunigen
und ein wenig unkalkulierbar zu entwickeln. Der Vater war an der Front, alle Briefe, die wir erhielten, berichteten von Fliegergeschädigten, von ausgebombten Häusern, und von Vätern, Brüdern und Söhnen, die als tapfere Soldaten an den Fronten für Volk und Vaterland gefallen waren. Die feindlichen Bomber flogen inzwischen ungeniert bei Tag und Nacht über uns hinweg. Das Radio berichtete immer öfter von Bomben-angriffen auf deutsche Städte. Gelegentlich hörte man das deutsche Abwehrfeuer. Die Metzer
wurden aufsässiger gegen die Besatzer und die Gestapo und die SS erstickten jeden Widerstand der Metzer im Keim.  Aber der Glaube an den Führer überstrahlte alle Schwierigkeiten. Lisbeth Held schrieb in ihrem Feldpostbrief vom 14. Oktober 1943 an Vater: „es geht alles vorüber, bald kommt der siegreiche Frieden, die Vergeltung kommt bald für die Engeländer.“
Die Familie Gangler hielt treu zu uns und sorgte sehr diskret dafür, dass uns kein Leid geschah, wozu mit Sicherheit auch die Nähe des SS-Kasinos beitrug. Ganglers empfahlen meiner Mutter, den Kontakt zur Familie Josua Goldmann zu meiden, weil wir dadurch ziemlich sicher
ins Fadenkreuz der Nazis geraten würden.
  An einem schönen Sonntagmorgen machten Mama, Lieschen und ich einen Spaziergang entlang des Moselkanals und kamen zufällig am
sehr versteckten Unterschlupf der Familie Goldmann vorbei. Die kleine Wohnung stand kalt und leer und sah geplündert und verwüstet aus.
Die Haustür stand offen und auf der Treppe lag die Puppe des kleinen Judenmädchens. Wir Kinder wollten uns der offenen Tür nähern. Mama stand etwa eine Sekunde lang wie versteinert stehen, dann wandte
sich dann jäh um und schnarrte mit heiserer Stimme:
“Weg hier!“. Sie riss uns an den Armen um die Straßenecke, wo sie nach ein paar Metern stehen blieb und auf den Boden starrte.
In diesem Moment addierten sich die unklaren Konturen
aus den Siegesmeldungen, den Andeutungen der Freunde und Bekannten, den düsteren Schilderungen  aus den „schwarz“ abgehörten Feindsendern und den fast noch humorvoll empfundenen Beschimpfungen wie „ab nach Dachau“ oder „den sollte man vergasen“ zu einer mit allen Mutterinstinkten erkannten Bedrohung.

Das erst Halbjahr 1944 verlief ohne besondere Vorkommnisse im neuen Heim. Lieschen und Bube hatten keine Freunde und Freundinnen und
durften nicht auf der Straße spielen. Nur der Briefträger wurde jeden
Tag mit Herzklopfen erwartet und unsere Mutter war glücklich, wenn er
an unserer Türe vorbei ging oder nur eine einfache Feldpostkarte von Vater August überreichte.
 Der Briefträger- den vormals alle liebten
und erwarteten, war zu einer Art Todesbote geworden,
weil die Briefe

aus dem siegreichen Reich meist nur schreckliche Nachrichten von
Zerstörung und
Leid enthielten und schlimmstenfalls-es waren die blauen Briefe- in hymnischen Versen den Heldentod eines geliebten

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